Ohrakupunktur / Aurikulomedizin
 

Dr. med. H. Samlert, ehem. Vorsitzender der Deutschen Akademie für Akupunktur und Aurikulomedizin

China - Europa  aus: Das neue China, Heft Nr. 2/86
 

Wenn man das Wort Akupunktur hört, so denkt man meist sofort auch an China und Nadeln. Beides ist nicht unbedingt richtig. Die Ohrakupunktur ist eine europäische Entdeckung, genau gesagt: es war der französische Arzt. Dr. Paul Nogier, der die Ohrakupunktur entdeckte. Es ist jetzt an die dreißig Jahre her, daß Nogier seine erste Arbeit veröffentlichte. Doch bis dahin war es ein weiter Weg gewesen. Es war eine kleine Beobachtung, die Nogier machte. Er bemerkte bei Patienten in seiner Allgemeinpraxis in Lyon eine eigenartige Narbe an der Ohrmuschel (Abb. 1).

Es war eine kleine Verbrennungsnarbe. Auf Befragen erfuhr er, daß man diese Verbrennung zur Behandlung einer Ischias-Erkrankung vorgenommen hatte, d.h. man hatte mit einer  glühenden  Nadel  den Punkt  kauterisiert.  Weitere Nachforschungen ergaben, daß diese Art der Behandlung von Ischias und Hexenschuß zur Volksmedizin im Mittelmeerraum gehört. Neugierig geworden, probierte Nogier diese Behandlungsmethode bei seinen eigenen Patienten aus. Der Erfolg war verblüffend. Es gelang fast immer, den Schmerz rasch zum Verschwinden zu bringen. Da Nogier die chinesische Akupunktur erlernt hatte, war es ein nächster Schritt zu versuchen, an Stelle der sehr unangenehmen Kauterisation eine Nadel in den Punkt der Ohrmuschel zu stechen. Auch diese Versuche verliefen erfolgreich. Damit war zunächst der Schritt von der Kauterisation der Ohrmuschel zur Akupunktur der Ohrmuschel getan.

In weiteren Untersuchungen ergab sich, daß der Punkt an der Ohrmuschel immer nur bei Kranken mit Ischias auch gleichzeitig eine Druckschmerzhaftigkeit zeigte. Diese Stelle der Ohrmuschel war nicht nur druckempfindlich, sie war auch gegen Wärme empfindlicher als die umgebende Haut. Längere Zeit schien es, daß es sich um eine interessante und wirksame neue Behandlungsmethode für Ischias handelte. Eines Tages kam Nogier nun der Gedanke, daß auf diesem eigenartig gewölbten Gebilde im Inneren der Ohrmuschel (Abb.I) (anatom. Bezeichnung: Anthelix) noch weitere Reflexpunkte für die Wirbelsäule  zu  finden  sein könnten. Die Praxis bestätigte die Vermutung. Aufgeschlossene Kollegen, mit denen Nogier über seine Entdeckung sprach, bestätigten das Beobachtete. Schließlich kam er zu der Erkenntnis, daß die Ohrmuschel eine Art Abbildung des ganzen Menschen beinhaltet. Die Abbildung entspricht in etwa einem auf dem Kopf stehenden Embryo (Abb.2). In China war man inzwischen auf die Veröffentlichung Nogiers aufmerksam geworden und befaßte sich dort nun ebenfalls mit der Nadelung der Ohrmuschel.

Da man nun wußte, daß der Ischias-Punkt an der Ohrmuschel nur druckschmerzhaft war, wenn eine Ischiaserkrankung vorlag, wurde versucht, die Korrespondenz-Punkte anderer Körperregionen zu finden. Dazu konnte man bei anderen schmerzhaften Erkrankungen, z.B. am Ellbogen, an der Ohrmuschel den Korrespondenz-Punkt an seiner Druckschmerzhaftigkeit erkennen. Man ging nun noch einen Schritt weiter und prüfte in Selbstversuchen, ob das schmerzhafte Anbringen einer Aktenklammer z.B. am Daumen nun auch einen Korrespondenz-Punkt an der Ohrmuschel ergeben würde. Dieses Verfahren bewährte sich.

Man konnte über Beobachtungen an Spontan-Erkrankungen und über das geschilderte Provokationsverfahren  schon bald eine erste topographische Karte der Ohrmuschel mit den Korrespondenz-Punkten erstellen. Eine exakte Ohrkarte nach den neuesten Erkenntnissen brachte  der  Münchner Arzt Dr. Frank Bahr heraus.

Das Suchverfahren der Punkte nach ihrer Druckschmerzhaftigkeit war auf die Dauer nicht zufriedenstellend. Man war bei der Untersuchung zu sehr auf die Mitarbeit des Patienten angewiesen. Ein ängstlicher Patient gab zu viele Punkte, ein robuster dagegen zu wenige oder gar keine Punkte an. Nun war bekannt, daß die klassischen chinesischen Akupunkturpunkte am Körper elektrisch verändert sind. Diese Punkte zeigen gegenüber ihrer Umgebung einen verminderten elektrischen Widerstand, d.h. der elektrische Hautwiderstand ist über den klassischen Akupunktur-Punkten herabgesetzt. Es zeigte sich, daß auch die Punkte der Ohrmuschel elektrisch verändert sind. Im Gegensatz zu den Körper-Punkten, die stets einen herabgesetzten Hautwiderstand haben, sind die Ohrpunkte nur dann elektrisch verändert, wenn eine Erkrankung vorliegt. Dies ist gegenüber den Körperpunkten ein großer Vorteil, denn man kann sofort die behandlungsbedürftigen Punkte von denen unterscheiden, die keine Behandlung brauchen. Es wurde ein Punktsuchgerät konstruiert, das den Hautwiderstand des Punktes direkt mit dem  Hautwiderstand  seiner Umgebung vergleicht. Damit war ein objektives Verfahren für die Punktsuche an der Ohrmuschel gefunden. Ein noch besseres Verfahren zur Suche der Ohrpunkte erfolgt mit Hilfe eines PuIs-Reflexes, dem sogenannten Vasculär-Autonomen Signal, kurz VAS genannt. Damit ist es möglich geworden, die behandlungsbedürftigen  Punkte der Ohrmuschel exakt aufzufinden.

Nach dem Übergang von der Kauterisation zur Nadelung benutzte man zunächst StahlnadeIn, später mit noch besserem Erfolg Gold- und Silbernadeln. Für die Behandlung von Suchterkrankungen  (Nikotin-  und Eßsucht) verwendet man besser noch Dauernadeln, die aus Stahl hergestellt sind.

Eine Bereicherung der Behandlungsmöglichkeiten an der Ohrmuschel stellt die Verwendung von Lasern dar. Den besten Behandlungserfolg ergeben die Infrarot-Laser. Ihre Eindringtiefe ist gegenüber den Helium-Neon-Lasern   erheblich größer. Außerdem haben die Infrarot-Laser noch einen ganz entscheidenden Vorteil. Die Laser-Diode, die gelasertes Licht im Infrarot erzeugt, kann durch elektrischen Strom gepulst werden, d.h. man kann auf den Laserstrahl eine geeignete Frequenz aufmodulieren. Der Laser bietet noch weitere Vorteile. Die Behandlung mit einem Laser ist völlig schmerzfrei. Daher ist die Laser-Akupunktur besonders für Kinder und schmerzempfindliche Personen geeignet. Der Laser sollte eine regulierbare Leistung bis 30 mW haben.

Die Frage, ob nun die Nadel  oder der Laser die "bessere" Akupunktur ergebe, kann so generell nicht beantwortet werden. Es gibt Störungen, die besser mit Nadeln und andere, die besser mit einem Laser behandelt werden können. Es ist auch durchaus möglich, Nadel und Laser zu kombinieren. Diese Entscheidung kann immer nur der Arzt an Hand des vorliegenden Krankheitsbildes treffen. Die Behandlungsmöglichkeiten mit der Ohrakupunktur gehen weiter als die mit der Körperakupunktur. Insbesondere ist es mit der Ohrakupunktur möglich, seelische Störungen günstig zu beeinflussen. Man kann ganz allgemein sagen, daß die Ohrakupunktur geeignet ist für alle Erkrankungen, bei denen im Körper etwas gestört ist, ungeeignet dagegen, wenn etwas zerstört ist. Besonders eignen sich Schmerzzustände aller Art für die Behandlung mit Ohrakupunktur. Der Effekt der Ohrakupunktur setzt   meistens schneller ein als der der Körperakupunktur.  Bei Schmerzzuständen ist es unerläßlich, daß die Ursache des Schmerzes geklärt wird.

Zu den Krankheiten und Gesundheitsstörungen, die gut auf Ohrakupunktur ansprechen, gehören: Kopfschmerzen, Migräne; Stuhlverstopfung, Morbus Crohn, Colitis; allergische Erkrankungen wie Heuschnupfen, Asthma bronchiale; Wirbelsäulenerkrankungen, Hexenschuß, Ischias, weniger gut M. Bechterew; Gelenkerkrankungen wie Tennisellbogen, Schulter-Arm-Syndrom, Hüft- und Kniegelenkserkrankungen;   Magenschleimhautentzündung,  Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre;  Krampfaderschmerzen, Hämorrhoiden; Reizblase, Reizzustände der Vorsteherdrüse; Hauterkankungen wie Ekzem, Dermatosen, Neurodermitis, nicht aber Schuppengeflechte; Gürtelrose und Schmerzzustände danach; Neuralgien, bes. Trigeminusneuralgie,  Intercostalneuralgie; Ein- und Durchschlafstörungen; Angstzustände, bes. Examensangst, Lampenfieber; Depressive Verstimmungen, nicht die endogene Depression; Suchtkrankheiten, besonders Nikotin- und Eßsucht, für Alkohol- und Drogensucht nur unterstützend bei stationärer Behandlung. Diese Zusammenstellung kann der Natur der Sache nach nicht vollständig sein. Im Zweifelsfall wende man sich an einen erfahrenen Akupunkturarzt.

Eine weitere Anwendungsmöglichkeit der Ohrakupunktur besteht in der Schmerzunterdrückung bei Operationen. Ein sehr bewährtes Verfahren der Ohrakupunktur für diese Zwecke wurde von C.D. Broedersdorff, Hilden, entwickelt. Für die eigentliche Schmerzausschaltung werden an jedem Ohr zwei Nadeln gestochen. Diese Nadeln werden mit Hilfe eines Spezialgerätes mit elektrischem Strom   angeregt. Dadurch kommt es zu einer Schmerzunempfindlichkeit des ganzen Körpers. Man braucht bei diesem Verfahren für jede Art von Operation die gleiche Nadellage. Im Gegensatz dazu muß man bei der Verwendung von Körper-Nadeln für jeden Eingriff eine besondere Kombination von Nadeln verwenden. Diese Schmerzausschaltung durch Ohrakupunktur für Operationen bezeichnet man als Aurikulo-Elektro-Stimulationsanalgesie, kurz AESA. Die Schmerzausschaltung durch die Ohrnadeln kombiniert man mit einer ganz flachen Lachgasnarkose. Diese würde nicht ausreichen, um größere Eingriffe auszuführen, genügt jedoch, das Bewußtsein des Patienten auszuschalten. Es ist nicht jedermanns Sache, im Wachzustand, wenn auch ohne Schmerzen eine große Operation, beispielsweise mit Durchsägen von Knochen, über sich ergehen zu lassen, wie dies bei den Hüft- oder Kniegelenksendoprothesen mit einer Gesamtdauer von mehreren Stunden erfolgt. Bei der Kombination von AESA mit einer ultraflachen Lachgasnarkose werden Herz und Kreislauf weniger belastet als bei den herkömmlichen  Anästhesie-Verfahren. Die Einsparung von chemischen Narkose-Mitteln beträgt bei der AESA 70 Prozent. Die Erholung nach der Operation geht erheblich schneller vonstatten als bei herkömmlichen Narkoseverfahren, da der Körper die leber- und nierengiftigen  Narkosemittel nicht abzubauen braucht.

Die Ohrakupunktur hat sich auch zur Bekämpfung der Schmerzen nach Operationen sehr gut bewährt. Birgit Grammel, Hamburg, hat dazu ein Verfahren entwickelt. Man geht dabei so vor, daß man noch während der Operation am Ohr den Korrespondenz-Punkt des Operationsgebietes aufsucht. In diesem Punkt sticht man dann eine Dauernadel. Um nun nach der Operation die für den Organismus belastenden Schmerzmittel so weit wie möglich einsparen zu können, muß die Dauernadel aktiviert werden. Man erzeugt nach dem Dynamo-Prinzip mit Hilfe eines kleinen Magneten in der Dauernadel einen  schwachen  elektrischen Strom. Dazu muß der Magnet rasch über die Dauernadel gedreht werden. Man setzt den Magneten auf die Achse eines kleinen Elektro-Motors. Stimuliert man die Dauernadel regelmäßig mit dem Magneten, so kann auf die Gabe von Schmerzmitteln weitgehend verzichtet werden. Auch dadurch wird die Erholung des Patienten nach der Operation begünstigt und beschleunigt.

Faßt man nun zusammen, welche Möglichkeiten mit der Ohrakupunktur gegeben sind, so stellt man fest, daß das Verfahren für verschiedene medizinische Zwecke gut zu gebrauchen ist. Durch die Kenntnis der Ohr-Topographie ist es möglich, vom Ohr her Diagnosen zu stellen. Ein vermeintlicher Tennisellbogen ist oft halswirbelbedingt. Einer Schlafstörung liegt in Wirklichkeit eine Depression zugrunde. Diese Anwendung der Ohrakupunktur müßte man als Aurikulo-Diagnostik bezeichnen. Die zweite Anwendung der Ohrakupunktur ist die Behandlung von Krankheiten, so daß man hier von Aurikulotherapie spricht. Die dritte Anwendungsmöglichkeit besteht in der Aurikulo-Analgesie. Unter diesem Gesichtspunkt ist es gerechtfertigt, Aurikulo-Diagnostik,  Aurikulo-Therapie  und Aurikulo-Analgesie zusammen als Aurikulo-Medizin zu bezeichnen.
 

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